Öffnungen - Die Lebenszüge des Schachmeisters Greco

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Freerk Bulthaupt

ÖFFNUNGEN
Die Lebenszüge des Schachmeisters Greco

642 Seiten, kartoniert, 1. Auflage 2014, AT Edition

 

„Von dem italienischen Schachmeister Gioacchino Greco (1600 bis ca. 1630), der als einer der ersten Schachprofis gilt und einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Königlichen Spiels leistete, gibt es weder ein Bild noch eine Beschreibung. Da auch über sein Leben nur wenig bekannt ist, hat sich der Autor angeregt gefühlt, eine mehr fiktive als historisch korrekte Biographie zu entwerfen. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Greco zieht an die Fürstenhöfe Europas, wo er für seine schachlichen Dienste bezahlt wird und hochdotierte Wettkämpfe spielen kann. Er beschränkt sich aber nicht auf die 64 weißen und schwarzen Felder des Schachbretts, sondern kommt mit Menschen unterschiedlichsten Ranges in Berührung und öffnet sich der bunten Abenteuerlichkeit des Lebens.!“ (Umschlagtext)

 

Nachfolgend eine Leseprobe aus dem dritten von 48 Kapiteln. Im Schachkalender 2015 ist eine Leseprobe aus dem ersten Kapitel „In der Taverne“ abgedruckt sowie ein ausführliches Interview mit dem Autor.

 

Das Schachmanuskript
„Gioacchino Greco aus Kalabrien!“ rief der bartlose Diener mit hoher Stimme und öffnete buckelnd die Tür zum Arbeitszimmer des Kirchenfürsten. Unsicher betrat der junge Mann den schmucklosen, nur durch einige fromme Bilder belebten Raum.
Kardinal Savelli strich mit seinen gepflegten Händen gefühlvoll über das Bündel von Papieren, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und wandte sich wohlwollend seinem Besucher zu: „So nimm doch Platz, junger Freund. Greco..., der Name deutet darauf hin, daß du griechische Wurzeln hast.“
„Eminenz, ich bitte um Entschuldigung ...“, stammelte der Kalabrier. „Ich weiß davon nicht viel. Mein Vater hat mir einmal erzählt, daß unsere Vorfahren irgendwann aus Griechenland nach Unteritalien eingewandert sind...“
„Wie ich es mir schon dachte,“ meinte der Kardinal. „Aber das tut jetzt nichts weiter zur Sache... Du hast mir ein vortreffliches Manuskript zukommen lassen, an dem ich großes Vergnügen fand. Wenn ich auch leider nicht genug von der Kunst des Schachspiels verstehe, um deine Schrift in allen Einzelheiten würdigen zu können, so habe ich doch sehr wohl erkannt, wie wertvoll sie grundsätzlich ist, insbesondere weil sie viel Neuartiges, ja geradezu Bahnbrechendes enthält. Soweit ich weiß, werden hier zum ersten Mal nicht nur Eröffnungszüge wiedergegeben, sondern ganze Partien von Anfang bis Ende. Gewiß mußte ich mich zuerst an die Beschreibung der Züge gewöhnen, aber schließlich habe ich ein Dutzend Partien nachgespielt, äußerst lehrreiche Spiele, die quasi zu ihrer eigenen Krönung mit so brillanten Kombinationen enden, wie sie bekanntlich wir Italiener besonders lieben...“
Der Kardinal schmunzelte selbstgefällig und fuhr, als sein Gegenüber weiter ehrerbietig schwieg, schwungvoll fort: „Ich denke, daß deine Arbeit entscheidend dazu beitragen wird, Schach an Bedeutung weit über andere Spiele hinauszuheben, die nur von Glück und Zufall bestimmt sind. Indem du die Beliebigkeit der Figurenbewegung in ein System bringst, betrittst du – vielleicht, ohne dir dessen bewußt zu sein – den Boden der Wissenschaft. Ich bin beeindruckt von der Exaktheit, mit der du den Verlauf einer Partie untersuchst. Du kommst dabei zu bestimmten Schlüssen, die für jeden der Logik mächtigen Spieler nachvollziehbar und auf seine eigenen Partien anwendbar sind. Des weiteren will ich dir sagen, daß ich deine Bemühungen schätze, das bei den Spielregeln herrschende Chaos zu ordnen. So lieferst du überzeugende Argumente, daß eine Pattsituation nicht mehr als Sieg oder Niederlage zu werten ist, sondern als Unentschieden. Selbst unsere störrischen spanischen Freunde, die am liebsten nie aufhören würden, nach ihren alten Regeln zu spielen, werden sich nun hoffentlich eines besseren belehren lassen und deine Interpretation akzeptieren. Dasselbe gilt für die kleine Rochade, die du als regulär eingeführt hast, und die man eigentlich ab sofort ,Rochade nach kalabrischer Art‘ nennen müßte, um dir und deiner Heimat Reverenz zu erweisen.“
„Ihr seid zu gütig, Eminenz“, ließ sich der so Gelobte vernehmen und verbeugte sich tief, was im Sitzen überaus linkisch wirkte. „ ,Rochade nach kalabrischer Art‘ – das ehrt auch meinen großen Landsmann, Gott hab’ ihn selig, den Meister Leonardo da Cutri, dem ich unbedingt nacheifern möchte. Er soll schüchtern gewesen sein und von kleinem Statut ...“
„Von kleiner Statur“, korrigierte der Kardinal nachsichtig lächelnd, worauf der Besucher errötete: „Vergebung, Eminenz. Da Cutri war von kleiner Statur, doch hatte er einen so großen klaren Verstand, daß er selbst gegen die besten spanischen Spieler bestehen konnte. In Madrid hat er unter den Augen des spanischen Königs sogar den berühmten Ruy Lopez geschlagen, nach dem die Spanische Partie benannt ist!“
„Schon gut“, unterbrach Kardinal Savelli leicht gelangweilt.
„Wir wollen heute doch nicht über die Toten reden, sondern über dich und deine Arbeit, mein junger Freund, der du lebendig vor mir sitzt. Wie gedenkst du des weiteren mit dem Manuskript zu verfahren? Und wie willst du es überhaupt betiteln“?
„Mit Eurer Erlaubnis, Eminenz, werde ich mein bescheidenes Werk ,Traktat vom Adel des Schachspiels‘ nennen und es Euch in aller Ergebenheit widmen. Sollte es Eurer Eminenz belieben, sich beim Zäsuramt der Kirche...“
„ Beim Zensuramt, willst du wohl sagen...“
„...beim Zensuramt für eine Druckgenehmigung einzusetzen, wäre ich der glücklichste Mensch von ganz Italien.“
„Und wer soll die Druckkosten tragen?“, fragte der Kardinal mit jäh erwachendem Mißmut. „Soweit ich weiß, bist du nicht gerade mit Reichtum gesegnet.“
„Das ist wohl wahr, Eminenz. Das wenige, was ich hab’ und bin, verdanke ich meinem Lehrer, Pater Renato. Er hat mich, verwahrlost und halbverhungert, im Schmutz von Celico aufgegriffen, hat mir Brot und Kleidung geschenkt und mich nach Neapel zu seinen jesuitischen Brüdern mitgenommen. Bei ihnen lernte ich Lesen und Schreiben und wurde zur Höflichkeit erzogen. Das Wohnen, Essen und Lernen im Kollegialhaus kostete nichts – anders wäre es ja auch gar nicht gegangen, woher hätte ich denn auch nur einen einzigen Scudo nehmen sollen! Mir blieb nur übrig, mit meiner Dankbarkeit zu bezahlen.“
„Und trotzdem hast du dich nicht entschlossen, den priesterlichen Weg einzuschlagen. Man nennt dich einen Affilierten – dem Orden nahe, aber eben nicht sein Mitglied.“
„Eminenz, ich bitte untertänigst um Vergebung, aber die Regeln der ,Gesellschaft Jesu‘ sind mir zu streng. Ich bin froh, daß ihre Patres mir das Beten beigebracht haben, und ich sag’ jeden Tag gehorsam das Vaterunser auf, das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote und die zehn Sakramente. Aber die Jesuiten sind nie mit ihren Schülern zufrieden. Sie wollen, daß man in einem fort irgendetwas Frommes tut: daß man beichtet, die Messe hört, fastet oder sich geißelt.“
Der Kardinal hatte durchaus Verständnis für solche Klagen, und während er mit Schadenfreude daran dachte, daß sein mächtiger Kollege, der Jesuitenkardinal Bellarmin, vor lauter Askese nur noch Haut und Knochen war, strich er behaglich über den ansehnlichen Bauch, der sich unter seiner Soutane wölbte.
„Sie fordern unbedingten Gehorsam“, ereiferte sich der Kalabrier weiter, „lassen in ihren Unterrichtsstunden nur auswendig lernen und erlauben kein einziges freies Wort. Das alles hätte ich vielleicht noch ertragen, wenn ich nicht eigene Pläne gehabt hätte. Meine Gedanken drehten sich nämlich nur um Schach. Ich wollte, ich mußte ein Schachmeister werden, ich war mir sicher, das ist meine Bestimmung.“
„Bestimmung, ah, welch großes Wort!“ Der Kardinal verzog spöttisch die Lippen, aber wollte dann doch Genaueres wissen. „Wie denn und wann hast du von deiner Bestimmung erfahren?“
„Ich war damals noch sehr klein. Der Frühling kam gerade ins Dorf und brachte den Bäumen und Wiesen das erste Grün. Ich hockte vor der Hütte meiner Eltern und döste in der Morgensonne, da ist mir auf einmal dieses Bild erschienen. Ein Bild, es war so kurinös, daß ich es nie mehr vergessen kann. Aber ich hab’ noch keinem davon erzählt. Es ist mein Geheimnis.“
„Oho, ein Geheimnis also. Du sprichst ja schon wie dein seliger Landsmann und Namensvetter, der Zisterzienserabt Joachim von Fiore, der nicht einmal dem Heiligen Vater mitteilen wollte, was er in seinen Visionen gesehen hatte. Aber ein Geheimnis zu haben, ist immer gefährlich, mein junger Freund. Unsere Mutter Kirche sieht es nicht gern, wenn sich etwas ihrer Kontrolle entzieht, was in den Seelen ihrer Kinder geschieht. Ich habe von Pater Renato gehört, daß deine Mutter Viehhirtin war. Damit du also besser verstehst, was ich meine: Ein guter Hirte darf keinesfalls zulassen, daß auch nur ein einziges Schaf seiner Aufsicht entkommt. Du willst mir also wirklich nicht sagen, was auf dem Bild zu sehen war?“
„Eminenz, ich flehe Euch an, werdet nicht zornig! Einer, der ein Geheimnis verrät, verliert viel Blut und hat danach keine Kraft mehr.“
„Das ist heidnisches Gewäsch“, winkte der Kardinal unwillig ab. „Vor Gott dem Herrn gibt es kein Geheimnis. Du hast dein Bild ja nicht selbst erzeugt, sondern es ist durch Gottes Gnade in dich hineingelegt worden.“
„Eminenz, ich weiß nur, es ist nicht wieder aus mir herausgefallen. Daß es etwas mit Schach zu tun hatte, ahnte ich nicht, solange ich mich mit den anderen Kindern von Celico um ein Stück Brotrinde balgte. Ich hatte damals noch nie ein Schachspiel gesehen, ja nicht einmal davon gehört. Erst als Pater Renato im Keller des Kollegialhauses von Neapel Schachbrett und Figuren aufstöberte und mir die ersten Unterweisungen gab, wie ich damit umgehen sollte, wurde mir klar, daß ich das alles schon einmal gesehen hatte. Am Anfang war ich allein auf Pater Renato angewiesen, der mit mir übte und spielte, obwohl er das eigentlich gar nicht durfte, weil sein Provinzial zu der Zeit die meisten Spiele verboten hatte. Es hieß, alles ist verwerflich, was um Geld gespielt wird, und dazu noch in Kneipen und Bordellen. Aber wenn auch das Schach mit Pater Renato heimlich sein mußte und deshalb nicht allzu häufig war, bin ich doch schnell vorangekommen. Ich grübelte viel für mich allein, entdeckte neue Züge in der Eröffnung und machte mir Notizen darüber. Bald spielte ich besser als mein Lehrer.“
„Pater Renato hat mir, als er deine Schrift einreichte, noch etwas von einem Doktor der Rechte gesagt, der dich weiter gefördert hat. Verfügt dieser Herr denn nicht über die Mittel für den Druck deiner Schrift?“
„Der Herr Doktor Gentile lebt inzwischen nicht mehr. Wenn Ihr erlaubt, Eminenz, werde ich seine Geschichte erzählen.“
„Faß dich kurz, denn meine Zeit ist nicht unbegrenzt.“
„Als ich vierzehn Jahre alt war, nahm mich Pater Renato unter irgendeinem Vorwand auf seine Dienstreise nach Cosenza mit. Wir wohnten bei dem Herrn Doktor, der in der Stadt der beste Schachspieler war. Er lud viele Gäste zu sich ein, und sie schauten zu, wie wir fünf Partien gegeneinander spielten. Dreimal hab’ ich gewonnen. Das hat den Herrn Doktor wohl so verblüfft, daß er Pater Renato bat, mich ihm zu überlassen. Er sagte, er will sich um mein Schachtalent kümmern und auch um mein leibliches Wohl. Dem Pater war das eigentlich gar nicht recht, aber am Ende ging er darauf ein, als der Herr Doktor Gentile ihm nämlich versprochen hat, er wird sich beim Rat von Cosenza für den Bau einer jesuitischen Kirche einsetzen. Ich hab’ es im Haus des Doktors gut gehabt. Er hatte keine Kinder und nannte mich seinen Wunderknaben. Jeden Tag hat er mir Schachaufgaben gegeben und sagte, ich soll nur fleißig von den großen Meistern lernen, dann kann ich selbst bald ein Großer werden. Drei Jahre wohnte ich in Cosenza. Dem Herrn Doktor ist es gelungen, mir die wenigen Schachbücher zu besorgen, die es überhaupt gibt. Die Werke von Lucena, Damiano, Salvio oder Selenus – ich hab’ sie gierig verschlungen wie ein Wolf. Aber ich war damit nicht zufrieden. Ich hatte allerlei Fehler gefunden und hab’ dem Herrn Doktor erklärt, man muß bessere Schachbücher schreiben. Der Doktor sagte: ,Nur noch ein wenig Geduld, mein Junge, du bist dafür noch zu jung. Du wirst schon irgendein Zeichen bekommen, wenn die Zeit für dich reif ist.‘ Er hat dabei ein irgendwie trauriges Gesicht gemacht, da hatte ich plötzlich so eine Vorahnung, daß etwas Schreckliches passieren würde. Nur einige Wochen später – ich war gerade in Neapel, um Pater Renato zu besuchen – brach im Haus des Doktors Feuer aus, und er ist dabei elend umgekommen. Mit ihm sind viele Bücher verbrannt, auch die Schachbücher alle. Da wußte ich, daß ich nun auf mich allein gestellt war und selbst etwas schreiben mußte.Vor allem aber wurde mir klar, daß nichts in meinem Leben zufällig ist.“
„Natürlich nicht“, sagte Kardinal Savelli trocken.“ Über uns allen waltet der göttliche Ratschluß. Mir scheint jedoch, du bist in Gefahr, diesen Grundsatz des Glaubens allzu sehr nach deinem Geschmack auszulegen! Damit du auf deinem weiteren Weg nicht strauchelst, will ich dir eine Belehrung erteilen, und du solltst sie dir dringlicher merken als die leidigen Curiosa der lateinischen Sprache: Niemand kann wissen, was der Allmächtige in seiner Unerforschlichkeit mit dir vorhat, am wenigsten du selbst. Aber kommen wir auf das Anliegen zurück, das dich zu mir geführt hat. Ich frage dich mit großer Besorgnis: Wo in deiner Schrift, Gioacchino Greco, ist eigentlich Gott?“
Der Kalabrier schwieg. Als die Stille dem Kardinal lästig wurde, ergriff er wieder das Wort: „Erst vor drei Jahren hielt ich ein Schachmanuskript in der Hand, das fast auf jeder Seite den Namen des Herrn lobpreist. Der Autor war, wenn ich mich recht erinnere, ein sizilianischer Priester,
der ...“
„O ja, Ihr erinnert Euch richtig“, fiel Greco, in seinem Eifer nicht gerade schicklich, dem Kardinal in die Rede. „Ich habe das Buch von Pietro Carrera gelesen. Es hat eine Menge Vorschriften, wie sich der Schachspieler vor dem Wettkampf verhalten soll. Einige Tage darf er kein Fleisch essen und muß Brech- und Abführmittel nehmen, um die Gifte aus seinem Körper zu werfen. Böse Dämonen soll er verscheuchen, alle seine Sünden beichten und die Absolution erhalten, bevor er sich ans Schachbrett setzt. Ich weiß nicht, Eminenz, ob ein solches Bimbumbarium nötig ist. Weiß nur, daß das Buch nicht viel gibt, was ein wirklicher Schachspieler brauchen kann.“
„Mag sein“, murmelte der Kardinal und drehte ein wenig ratlos an dem kostbaren Ring, der seine rechte Hand schmückte.
„Aber der Publikation einer solch gottesfürchtigen Schrift stand nicht das geringste im Wege. Du hingegen wirst Schwierigkeiten bekommen, zuerst mit dem Zensuramt und am Ende noch mit dem Sacrum Officium, wobei man dich beschuldigen kann, nicht genug Demut vor Gott zu zeigen. Dieser Vorwurf läßt sich jederzeit gegen einen Menschen erheben, der nur Profanes im Sinn hat. Wenn du verstehst, was ich meine. Man wird dir sagen: Ob die Gesetze irgendeines sündigen Spiels erforscht werden oder nicht, ist für das Heil unserer Seelen ohne Bedeutung. Hast du eigentlich jemals von Galilei gehört?“
(...)

– Ende der Leseprobe –

 

 

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